
Wenn schon Kinder schuften müssen
Ein Gespräch mit UNICEF-Expertin Ninja Charbonneau anlässlich des Tages gegen Kinderarbeit
Einigen wird es merkwürdig erscheinen, dass wir im Jahr 2024 immer noch über Kinderarbeit als ein weltweites Problem sprechen müssen. Doch den Internationalen Tag gegen Kinderarbeit gibt es nicht ohne Grund. Kinder und Minderjährige überall auf der Welt arbeiten – Tendenz zuletzt steigend. Und damit ist nicht gemeint, dass sie Zeitungen austragen oder den Rasen ihrer Eltern mähen. Wir haben mit der UNICEF-Expertin Ninja Charbonneau anlässlich des diesjährigen Welttages gegen Kinderarbeit gesprochen.
Wir alle haben wahrscheinlich eine grobe Idee davon, was Kinderarbeit ist. Aber können Sie es hier noch einmal für uns zusammenfassen, Frau Charbonneau ?
Grundsätzlich fällt unter Kinderarbeit jede Art von Arbeit, für die Kinder zu jung sind, die gefährlich oder ausbeuterisch ist, die körperliche oder seelische Entwicklung schädigt oder die Kinder vom Schulbesuch abhält.
Was für Formen der Kinderarbeit gibt es?
Kinderarbeit hat viele Gesichter. 70 Prozent der Mädchen und Jungen arbeiten in der Landwirtschaft. Zudem schuften sie auf Müllkippen, in Bergwerken, Steinbrüchen oder Textilfabriken, arbeiten an Tankstellen, in Teestuben oder verkaufen Obst oder Taschentücher auf der Straße. Viele Mädchen arbeiten als Hausangestellte, dies passiert oft hinter geschlossenen Türen und ist versteckter.
Fast die Hälfte der arbeitenden Kinder (79 Millionen) leidet unter Arbeitsbedingungen, die gefährlich für sie sind – zum Beispiel in Goldminen, auf Baumwollfeldern und Kakaoplantagen. Etwas mehr als die Hälfte sind unter zwölf Jahre alt.
Und dann gibt es die sogenannten „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“. Darunter fallen beispielsweise Sklaverei oder sklavenähnliche Abhängigkeiten, Kinderprostitution, der Einsatz von Kindersoldaten und -soldatinnen und kriminelle Tätigkeiten, zum Beispiel wenn Kinder als Drogenkuriere eingesetzt werden.
Diese Vorstellung ist furchtbar. Gibt es in den Ländern, wo Kinderarbeit häufig vorkommt, keine Gesetze, die dagegenhalten?
Doch, es gibt in den meisten Ländern Gesetze gegen Kinderarbeit. Und auch die UN-Kinderrechtskonvention, die weltweit gültig ist, untersagt Kinderarbeit. Trotzdem ist sie in vielen Ländern Realität. Und das liegt vor allem an der zugrundeliegenden Ursache: Armut. Eine Familie, die in Armut lebt, ist oft darauf angewiesen, dass auch die Kinder arbeiten gehen. Davon kann das Überleben einer Familie abhängen. Es kann auch sein, dass ein Elternteil fehlt oder krank ist. Soziale Absicherungen vom Staat, wie wir das hier in Deutschland kennen, gibt es oft nicht. Die Familien sind weitgehend auf sich allein gestellt.
Ein Verbot ist also wichtig, aber das allein reicht nicht aus. Denn so schlimm es ist, wenn Kinder schwer schuften müssen – wenn man ihnen jede Möglichkeit zum Arbeiten nimmt und der Familie keine alternativen Verdienstmöglichkeiten gibt, würde ein hart durchgesetztes Verbot vielen Kindern sogar erst einmal schaden.
Verstehen Sie mich nicht falsch, jede Form der Kinderarbeit ist per Definition schlecht für Kinder.
Für uns ist es aber auch ein Teil unserer Arbeit, diese Realität anzuerkennen, auch wenn sie uns nicht gefällt. Uns ist wichtig zu vermitteln: Der Ausweg aus der Armut ist nicht Kinderarbeit, sondern es müssen die Ursachen bekämpft werden, die zu Armut führen.
UNICEF setzt sich weltweit gegen Kinderarbeit ein. Lernen Sie hier Shafiul, Anayet, Maha, Job und Alphonsine kennen.

Bild 1 von 5 | Bereits seit drei Jahren arbeitet der 13-jährige Shafiul in einer Silberpolierfabrik - für umgerechnet 9,40 Euro pro Woche. Er lebt mit seinen Eltern und drei Geschwistern in Ashrafabad, Kamrangir Char, Dhaka. Aufgrund ihres geringen Einkommens hatten seine Eltern Mühe, die Familie zu versorgen. Shafiul beginnt zu arbeiten. Um seinen täglichen Mühen zu entfliehen, verbringt er zwei Stunden in einem UNICEF-Kinderschutzzentrum. Hier bekommt er Mahlzeiten und einen sicheren Ort, an dem er sich ausruhen, duschen, lernen und mit anderen spielen kann, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.
© UNICEF/UNI487754/Himu
Bild 2 von 5 | "Als Peer-Leader ermittle ich Fälle von Kinderarbeit, Kinderheirat, Vernachlässigung und Kindesmissbrauch in meiner Gemeinde und versuche sie zu beenden", erklärt Anayet.
Hier spricht der 15-jährige mit einem Jungen über die Auswirkungen von Kinderarbeit in den Rohingya-Flüchtlingscamps in Cox's Bazar, Bangladesh.
Anayet wurde zum Peer-Leader, nachdem er ein Zentrum besucht hatte, das von UNICEF mit Mitteln der Europäischen Union unterstützt wird und Grundkurse in Rechnen und Lesen, psychosoziale Unterstützung, Berufsausbildung und andere außerschulische Aktivitäten für Jugendliche anbietet.
© UNICEF/UNI517317/Sujan
Bild 3 von 5 | Maha, 7, ist in der 2. Klasse und wird mit einem Bus von UNICEF zur Schule gefahren. "Ohne diesen Bus könnten meine Kinder nicht zur Schule gehen", sagt ihr Vater Ahmad, ein syrischer Flüchtling in Jordanien. "Ich sage meinen Kindern, dass sie lernen und ihre Ausbildung fortsetzen müssen. Das ist besser für sie. Ich möchte sie wirklich nicht zur Arbeit schicken." Kinder, die in abgelegenen Siedlung leben, sind besonders von Kinderarbeit bedroht, da ihre Eltern oft als Arbeitskräfte auf den Bauernhöfen arbeiten, in denen sie leben. Ohne zuverlässige Transportmöglichkeiten würden viele Kinder, die in abgelegenen Gebieten Jordaniens leben, die Schule einfach abbrechen.
© UNICEF/UNI458420/Al-Safadi
Bild 4 von 5 | Job ist 12 alt und bricht Steine im Luwongo-Steinbruch in Kipushi, im Süden der Demokratrischen Republik Kongo. "Nachmittags nach der Schule, samstags und sonntags arbeite ich hier, um genug zu verdienen, sodass ich mein Schulgeld bezahlen kann. Manchmal verdiene ich bis zu 6.000 kongolesische Franken (Umgerechnet ca. 2 Euro) mit denen ich mein Schulgeld bezahlen und meine Eltern unterstützen kann", erklärt er. Fast die Hälfte der arbeitenden Kinder leiden unter gefährlichen oder ausbeuterischen Arbeitsbedingungen.

Bild 5 von 5 | Nach der Scheidung ihrer Eltern brach Alphonsine, 16 Jahre, die Schule ab, um sich um ihre Geschwister zu kümmern. Sie transportierte früher Ziegelsteine, die in einem Steinbruch hergestellt wurden. "Ich verdiente 2.500 kongolesische Francs (umgerechnet 0,82 Euro) nach einem Tag mit unglaublicher Müdigkeit. Diese Arbeit hätte mich fast das Leben gekostet, und ich musste mich wegen des Staubs, den ich im Steinbruch aufnahm, einer Operation unterziehen."
Alphonsine wurde von einem Mitglied der Schutzgemeinschaft ausfindig gemacht und an ein von UNICEF unterstütztes Förderzentrum verwiesen, wo sie eine Ausbildung als Bäckerin erhielt. "Diese Ausbildung hat mein Leben und das meiner Brüder, die bald wieder zur Schule gehen werden, völlig verändert."
© UNICEF/UN0697985/MulalaWenn man das so betrachtet, scheint das Problem der Kinderarbeit nicht so einfach und einseitig zu sein, wie man zunächst vermutet. Was gibt es noch für Umstände, die Kinderarbeit begünstigen?
Alles, was Armut verstärkt, können Treiber sein. Zum Beispiel führen bewaffnete Konflikte oder Kriege dazu, dass Strukturen zusammenbrechen und Eltern ihre Arbeit verlieren. Oder ein Elternteil stirbt oder ist verletzt und nicht mehr erwerbstätig – dann müssen häufig Kinder mithelfen, zum Lebensunterhalt beizutragen. Die Covid-Pandemie mit den gravierenden Folgen für viele Wirtschaftszweige und monatelangen Schulschließungen hat sich ebenfalls negativ auf Kinder und Familien ausgewirkt. Auch der Klimawandel kann dafür sorgen, dass Kinder vermehrt arbeiten müssen.
Was genau hat der Klimawandel mit Kinderarbeit zu tun?
Wir gehen davon aus, dass der Klimawandel ein verstärkender Risikofaktor für Armut und somit auch für Kinderarbeit ist. Extremwetterereignisse wie Dürren, Wirbelstürme oder Überschwemmungen nehmen durch den Klimawandel zu und zwingen Menschen zu fliehen. Ein Bericht von UNICEF zeigt, dass in 6 jahren 43 Millionen Mal mehr Kinder aufgrund von Wetterextremen aus ihrem Zuhause vertrieben wurden.
Bangladesch ist beispielsweise oft von Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen im Wechsel betroffen. Das führt dazu, dass Familien nicht nur einmal, sondern immer wieder ihr Zuhause verlassen müssen. Schließlich geben sie auf und gehen in die Städte, wo sie möglicherweise unter schlechteren Bedingungen arbeiten müssen. Dadurch kann das Armutsrisiko steigen und Familien sind darauf angewiesen, dass ihre Kinder arbeiten.
Nun haben wir gehört, dass es womöglich nicht zielführend wäre, nur gesetzlich und mit Strafen gegen Kinderarbeit vorzugehen. Was sind stattdessen Lösungsansätze?
Das Wichtigste ist, durch Prävention die Wurzel des Problems anzupacken, also dafür zu sorgen, dass Kinder gar nicht erst arbeiten gehen müssen. Vor allem müssen Eltern faire Löhne oder Unterstützung vom Staat erhalten. Der beste Schutz vor Kinderarbeit sind Investitionen in alle Lebensbereiche, wie Bildung und Gesundheit sowie in die soziale Sicherheit von Kindern und ihren Familien.
Ein Beispiel: Kinder, die arbeiten müssen, gehen meist nicht zur Schule oder brechen sie vorzeitig ab. Dadurch ist die Gefahr groß, dass sie ohne gute Ausbildung für immer in schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen bleiben. Sie bleiben in Armut stecken und sind später als Eltern womöglich ebenfalls darauf angewiesen, ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule zu schicken und so geht es immer weiter und weiter. Es ist ein Teufelskreis, den wir durchbrechen müssen.
Die internationalen Staatengemeinschaft hatte sich 2015 in den nachhaltigen Entwicklungszielen vorgenommen, Kinderarbeit bis 2025 zu beenden. Das wäre nächstes Jahr. Wo stehen wir und wo setzt UNICEF konkret an, um gegen Kinderarbeit vorzugehen?
Leider werden wir dieses Ziel bis zum nächsten Jahr nicht erreichen. Trotzdem war es richtig, ein ehrgeiziges Ziel bei dieser Kinderrechtsverletzung zu formulieren, und wir arbeiten weiter mit Hochdruck darauf hin, Kinderarbeit zu beenden. UNICEF unterstützt auf ganz vielen verschiedenen Ebenen, unter anderem in der Zusammenarbeit mit Regierungen und Unternehmen.
Daneben helfen wir auch ganz konkret: Es gibt zum Beispiel von UNICEF unterstütze Zentren, wo Kinder vor oder nach der Arbeit hinkommen können, um zu spielen, zu lernen, einen Bildungskurs zu besuchen oder einfach das zu sein, was sie sind: Kind. Die Projekte sind angepasst an die Lebensrealität der Kinder, und sollen aber helfen, dass sie nicht für immer in dieser prekären Situation stecken bleiben, sondern sich weiterentwickeln können.
Unsere Stiftung setzt sich seit 2006 gemeinsam mit UNICEF gegen Kinderarbeit ein.

Online Editor
Stiftung United Internet for UNICEF